Der kleine Tod des Pornokinos

Eine ZWISCHENZEIT ONLINE-Produktion in Zusammenarbeit mit der Straßenzeitung „Augustin“ und dem Institut für Journalismus und Medienmanagement an der FH Wien.

Das Bild „Der kleine Tod des Cinéma érotique“ (erstes Bild oben) wurde 2019 mit dem APA-Pressefotopreis „Objektiv“ als bestes Foto des Jahres in der Kategorie „Kunst und Kultur“ ausgezeichnet.


Eines der letzten Wiener Erotikkinos ist in der Favoritenstraße vorzufinden. Jonathan Weidenbruch (Text) und Heinz Stephan Tesarek (Fotos) schauten sich das Fortuna Kino an.

Die Frau hinter der Theke zündet sich noch eine Zigarette an. Mit einem Augenzwinkern verrechnet sie 10,50 Euro für das Tagesticket und wünscht mit einer rauchigen Stimme viel Spaß bei der Vorstellung. Sie sitzt hinter der Theke im Fortuna Kino. Das Foyer stammt aus einer Zeit, als Eleganz noch Mode war. Dunkelrot beleuchtete Wände. Das Mobiliar war ganz bestimmt mal sehr modern, mutet heute aber antik an. Im Eck steht eine alte Popcornmaschine auf drei Rädern. Ein paar Filmplakate und erotische Werbeposter zieren die Wände. Am Anfang des Foyers, neben den Sesseln, die High-Heels imitieren sollen, sitzt eine weibliche Gummi-Puppe auf einem Barhocker, eingekleidet mit Latexstiefeln und schwarzer Reizunterwäsche. Am Ende des Raumes ist der Eingang in den Kinosaal. Es sind nur zwei Gäste im Saal, die in den hinteren Reihen tief in den Stoffsitzen hängen und masturbieren. Immer wieder hört man leises Stöhnen oder zitterndes Ausatmen. Auf der Leinwand haben zwei braungebrannte junge Menschen mit trainierten Körpern Sex am Pool.

Glück oder Schicksal

Das Fortuna Kino, eines der letzten Erotikkinos in Wien, feiert dieses Jahr sein 99-jähriges Bestehen. Der aktuelle Betreiber wirbt zwar mit «Seit 1918», doch wissenschaftliche Quellen nennen 1920 als Gründungsjahr, damals noch als «Anker Kino», das 134 Sitzplätze bieten konnte. Mit der Aufnahme von Tonfilmen im Jahr 1931 erfolgte auch die Umbenennung in «Fortuna Ton Kino». Es ist zusammen mit den Breitenseer Lichtspielen in Penzing das letzte klassische Vorstadtkino Wiens. «Fortuna» heißt aus dem Lateinischen übersetzt so viel wie «Glück» oder «Schicksal».

Kaum passender, denn während das Kino vom erotischen Glück innerhalb seiner Wände lebt, muss es sich gleichzeitig dem Schicksal des Wandels von außerhalb stellen. In Favoriten gab es im Laufe der Geschichte – die Quellenlage ist hier nicht eindeutig – insgesamt an die 20 Kinos, wobei das Fortuna Kino als einziges überlebt hat, abgesehen vom Cineplexx Wienerberg, das erst 2001 errichtet worden ist. Als die großen Kinoketten nach Wien kamen, haben sie viele der kleinen Kinos in den Ruin getrieben. Mitte der 70er-Jahre fand sich auch das Fortuna Kino in einer Überlebenskrise wieder. Es sah sich gezwungen, den regulären Betrieb einzustellen, und baute das gesamte Kino in ein Erotikkino um. Die Zahl der Sitze wurde halbiert und der gesamte Betrieb erotisch eingefärbt. Mit den breiteren Sitzabständen wurde das Kinoerlebnis um einiges intimer und die Besucher_innen konnten ihren sexuellen Lüste mehr oder weniger freien Lauf zu lassen.

Es fehlt an Sympathie

Rund vierzig Jahre später steckt das Fortuna Kino erneut in einer Krise. Seine Existenz wird vom Aussterben der Kundschaft bedroht. Mario Adlassnig hat das Fortuna Kino vor vier Jahren übernommen und sorgt seitdem für das Überleben des Kinos. «An manchen Tagen kommen während der gesamten Öffnungszeit gerade einmal 20 Gäste in das Kino. Das ist extrem wenig und bei einem Eintrittspreis von 10,50 Euro kann man sich ausrechnen, dass hier nicht viel Geld zusammenkommt.» Die Lage des Kinos ist prekär.


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Auch Personal zu finden, das die Arbeit zuverlässig macht, ist schwierig. Mario Adlassnig erzählt, dass es in der Vergangenheit schon oft Probleme mit Aushilfskräften gegeben habe, die Tagespässe nicht verrechnet hätten, um sich das Geld selbst einzustecken. Was vor allem fehlt, sei eine Sympathie für das Etablissement und das Konzept der Erotikkinos an sich. Nicht nur bei der Aushilfskraft, sondern auch in der Gesellschaft. Mario Adlassnig vergleicht es mit anderen traditionellen Einrichtungen: «Wenn das Geschäft nicht läuft und kurz vor dem Sterben ist, interessieren sich die wenigsten dafür. Sobald es dann zumacht, finden es alle furchtbar traurig und fragen sich, wieso denn so ein Geschäft sterben musste.»

Der Grund für das drohende Aussterben dieser Genrekinos ist sehr logisch. Für viele Menschen hat ein Erotikkino einfach keinen praktikablen Nutzen mehr. Wer sich heute Pornofilme anschauen möchte, greift auf die immense Auswahl im Internet zurück. Erotikkinos zählen zu jenen Gewerben, welche durch die Digitalisierung laufend Kund_innen verlieren und sich fast nur mehr auf ihre langjährigen Kundenstämme verlassen können. Das Kino am Währinger Gürtel, ein anderes kultiges Erotikkino, das zum Fortuna Kino dazugehörte, hat diesen Kampf bereits verloren und musste letzten Sommer zusperren. Es sprach das urige Klientel an und konnte in Zeiten von Internetpornographie keine neuen Gäste gewinnen.


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Feierabendbier im Foyer

Zu einem beachtlichen Teil lebt das Kino von Stammgästen und vor allem von denen, die mit den Erotikkinos in Wien aufgewachsen sind. Menschen, die bereits seit Jahren in der Szene unterwegs sind und das Fortuna Kino gut kennen. Das sind zum Beispiel Franz und Erwin, die an einem kleinen Tisch im Foyer gegenüber von der Theke sitzen. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen hier. Franz kommt am frühen Abend ins Kino und trinkt hier sein Feierabendbier. Er erzählt, dass er am Kino vor allem die ausgelassene Atmosphäre schätzt. «Für mich ist es hier wie in einem Wirtshaus. Die Leute sind nett, man kann gut reden, und vor allem nimmt sich hier keiner ein Blatt vor den Mund.» Franz kennt sich in der Wiener Erotik-Szene nicht besonders gut aus. Ihn interessiert das weniger. Im Erotik-Kino zahlt er keinen Eintritt, denn wenn er hier ist, hält er sich nur im Foyer auf, im Kinosaal war er noch nie.

Hier nimmt keiner ein Blatt vor den Mund. Wenn es um Sex, Erotik oder Prostitution geht, sind die meisten ganz offen und schämen sich nicht, über ihre Bedürfnisse und Vorlieben zu sprechen. Erwin sitzt neben Franz und macht sich eine Flasche Cola auf. Die trinkt er meistens, wenn er mal wieder das Fortuna Kino besucht. Erwin kennt die Wiener Erotik-Szene schon sehr lange und auch dementsprechend gut. Er kommt aber nicht nur wegen dem Kino her, auch ein anderes Service, das angeboten wird, nützt er: Seit 2016 erfüllt das Fortuna Kino die Richtlinien des Wiener Prostitutionsgesetzes. Aktuell arbeitet Susi hier, und Erwin erzählt, dass sie es ihm besonders angetan hat. Es dauert nicht lang, bis Erwin und Susi im Kinosaal verschwinden und es sich auf der Couch in der letzten Reihe gemütlich machen.

Freiheit im dunklen Saal

Im Tagesgeschäft kommen Gäste auch wegen des erotischen Filmes vorbei. Das Kino gibt ihnen ein Gefühl, das sie zuhause vor dem Computerbildschirm so nicht bekommen. Mario Adlassnig spricht von «sehen und gesehen werden». Viele der Besucher_innen schätzen die Gesellschaft anderer, wenn sie sich selbst befriedigen. Die Möglichkeit einer Berührung oder Oralsex mit anderen Gästen zieht die Leute in ein Erotikkino, wo sie sich aus ihrem Alltag und vor allem von gesellschaftlich festgelegten sexuellen Normen befreien können.

Im dunklen Kinosaal weiß niemand, wer der oder die Andere ist, und es interessiert keine_n, welche sexuelle Orientierung man außerhalb des Kinos auslebt. So ist das Kino auch ein Treffpunkt. Die Dinge ergeben sich hier oft ganz spontan. Man sitzt nebeneinander, tauscht Blicke aus und legt die Hand in den Schoß des Sitznachbarn oder der -nachbarin. Wenn man nicht abgewiesen wird, kommt man sich näher.

Einmal im Monat Nostalgie

Im krassen Gegensatz dazu verwandelt sich das Fortuna Kino jeden vorletzten Samstag im Monat für eine Nacht in ein ganz normales Kino. Der reguläre Betrieb endet um 19 Uhr, damit bis 19.30 Uhr das Kino für den «Nostalgieabend» bereit ist. Erotische Plakate und Sex-Werbungen werden abgehängt und zur Primetime spielt es Klassiker wie Ein Mann sieht rot oderZwei glorreiche Halunken. Popcorn, Mannerschnitten und eiskalte Frucade lassen dann auch den letzten Hauch von Erotik aus dem Kinosaal entweichen und vollenden das perfekte nostalgische Flair.

Vor dem Einlass der Kinobesucher_innen wird der Saal komplett gereinigt. Assoziationen zu einem Erotikkino sind vermutlich unhygienische Kinositze und unappetitliche Hinterlassenschaften voriger Gäste. Um dem entgegenzuwirken, achtet das Fortuna Kino sehr auf Sauberkeit. Ein spezielles Mittel desinfiziert die Sitze, und der gesamte Saal wird nicht nur sauber gemacht, sondern duftet am Ende frisch.

Nachdem die letzten Pornoszenen des regulären Programms über die Leinwand geflimmert sind, leert sich der Saal fast wie von selbst, ein paar bleiben aber immer sitzen. Mario Adlassnig legt meistens noch einen kurzen Pornofilm in den Projektor und wartet, bis die übrig gebliebenen Gäste den Saal verlassen haben. Es ist üblich, dass die allerletzten, meist Stammgäste, an der Theke noch ein Bier oder eine Coca-Cola trinken. Schnell entstehen Gespräche mit anderen Gästen oder mit Mario. Er versteht es, seine Gäste im Foyer zu unterhalten und mit ihnen Schmäh zu führen, so ist im Fortuna-Kino auch noch nach dem Ende des letzten Films etwas los. Kurz nach zehn Uhr sperrt Mario die Tür hinter Susi und dem letzten Gast zu – bis  am nächsten Tag um zwölf der Film von vorne beginnt. ZZ


Die Kooperation mit dem Augustin

Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit „Augustin“, der „ersten österreichischen Boulevardzeitung“. Die von ZWISCHENZEIT ONLINE produzierten Bilder wurden der Wiener Straßenzeitung unentgeltlich zur Verfügung gestellt.


Das ZZON-Team

Jonathan Weidenbruch ist 1997 in München geboren und in Frankfurt am Main aufgewachsen. Er studiert Journalismus und Medienmanagement an der FH Wien. „Der kleine Tod des Wiener Pornokinos“ entstand im Zuge einer Lehrveranstaltung zu investigativem Journalismus.

Heinz Stephan Tesarek ist Fotojournalist und Gründer von ZWISCHENZEIT ONLINE. Das nahende Ende der Pornokinowelt fotografierte er durchaus wehmütig. Die Ähnlichkeiten zwischen den Entwicklungen von Pornokinos und Printmedien waren für ihn unübersehbar.


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