Um Pflegeheimbewohner vor dem Virus zu schützen, hat man sie daran gehindert, die Häuser zu verlassen. Wer darf entscheiden, ob Menschen isoliert werden? Und wieso wird darüber nicht mehr gestritten? Eine Imagination.
Von Nina Strasser (Text und Bild)
Stellen Sie sich einmal vor, Sie beschließen, ganz von vorne anzufangen. Die Umstände verlangen danach. Sie übersiedeln aus Ihrem geräumigen Eigenheim in ein kleines Zimmer, im dritten Stock eines Wohnkomplexes gelegen, in dem rund 300 weitere Personen leben und außerdem 100 Menschen beschäftigt sind. Die Miete, sie ist unbefristet, beläuft sich auf 3600 Euro und könnte sich mehr als verdoppeln. Sie erhalten zwar Förderung; zum Leben bleibt Ihnen nur Taschengeld. Dafür ist der Zimmerservice inklusive. Ihre Tochter entsorgt aus Ihrer alten Bleibe den Großteil des Interieurs. Ihren zehnjährigen Rauhaardackel vertrauen Sie einer Freundin an. Denn an Ihrem neuen Lebensmittelpunkt muss alles in zwei Schränke passen.
Im Pensionisten-Wohnhaus können Sie es sich endlich gut gehen lassen. Von Ihnen wird hier nichts mehr verlangt. Der Direktor begrüßt Sie mit Blumen in der Hand. Essen gibt es in der Kantine, einmal wöchentlich wird geputzt. Das Personal schaut stets nach Ihnen – nur die Besucher bleiben aus. Das Haus liegt weitab vom Schuss. Eine Bekanntschaft zu einem Ihrer Nachbarn schließen Sie beim Blasmusikkonzert im kleinen Garten. Ihre Schwerhörigkeit bleibt unbemerkt. Stellen Sie sich vor, Sie sind jetzt 90 Jahre alt.
Vor die Haustüre gehen Sie ungern allein. Sie kennen die Umgebung nicht. Und ohne Smartphone kommen Sie gar nicht auf die Idee, nach Kaffeehäusern zu googeln. Das Taschengeld von 250 Euro lässt Sie sowieso keine großen Sprünge tun. Das Datum kennen Sie selten, nur wenn Ihre Tochter Sie besucht, wissen Sie, dass Sonntag ist. Sie bringt die Batterien des Hörgeräts und manchmal neue Unterhosen. Sitzen Ihre Zähne richtig, sind die Fingernägel schon zu lang? Von Behörden sind Briefe angekommen, die Tochter kennt sich damit aus. Sie selbst haben vor langer Zeit den Überblick verloren. Immer wieder verschwinden Dinge und lassen sich partout nicht wiederfinden. Irgendwer aus diesem Haus steckt dahinter. Allein Ihrer Tochter können Sie absolut vertrauen. Sie erzählt Ihnen oft von draußen und nimmt Sie, das ist Ihr größtes Glück, regelmäßig dorthin mit. Doch plötzlich sind Sie eingesperrt.
Vor dem Haus sitzt jetzt ein Wachmann, und das Pflegepersonal verbirgt hinter Masken die Gesichter. Das Essen verspeisen Sie statt in der Kantine ab sofort alleine auf dem Zimmer. Zum Bekannten von der Nachbartür heißt es ab jetzt Abstand halten. Die Tochter werde erst mal gar nicht kommen, erklärt Ihnen das Personal. Ein Virus, das aus China komme, trage Schuld an der Misere. Eine Infektion könne für Menschen Ihres Alters tödlich enden. Die Regierung habe empfohlen, die Besucher mit 13. März auszusperren. Und sollten Sie vor die Haustüre treten, winken Ihnen zwei Monate Quarantäne. Dieses Haus, in dem Sie leben, scheint ein unsicherer Ort. Besser, Sie bleiben nun im Bett. Das Personal bemüht sich um Sie, doch für lange Unterhaltungen fehlt selbst den Motiviertesten die Zeit. Dann hält Ihnen ein junger Mann einen Fernseher vors Gesicht. Im Bild ist Ihre Tochter und spricht. Sie haben hoffentlich nicht vergessen, dass Sie schwerhörig sind!
Die Tochter stellt sich und anderen Fragen: Wieso wurde das Pensionisten-Wohnhaus zugesperrt, als in Ischgl noch gefeiert wurde? Wieso darf sie Sie nicht besuchen kommen, während andere vor Baumärkten in der Schlange stehen? Als Antwort erhält sie stets: Es diene Ihrer Sicherheit! Die Ehefrau Ihres Nachbarn, die früher täglich kam, ruft Ihre Tochter an und weint. Ihr Mann sei letzte Nacht verstorben, sie konnte ihn trotz aller Vollmachten seit Wochen nicht mehr sehen.
3922 Menschen versterben im März und April dieses Jahres in Österreichs Pensionisten-Wohnhäusern, 5,5 Prozent davon rafft das Virus dahin. Getestet wird zugleich in den Einrichtungen wenig. Erst nach zwei Monaten der Isolation beginnen sich die politischen Entscheidungsträger wieder der Senioren anzunehmen. 923 infizierte Bewohner wird die Bilanz am Ende sein. Wie es dazu kommen konnte, werden manche Direktoren so erklären, dass ihnen zu Beginn nur 30 Prozent der erforderlichen Schutzausrüstung zur Verfügung standen. Zahlen über infiziertes Personal gibt das Gesundheitsministerium nicht an.
Als sich die Altersheime im Mai zaghaft öffnen, tritt eine Blaskapelle im Garten auf. Ihren Bekannten können Sie nicht finden. Dafür steht Blumenschmuck auf den Tischen und das Fernsehen filmt mit. Ihre Tochter erkennen Sie kaum wieder, und 50 Minuten später bringt man Sie zurück ins Bett des Doppelzimmers, das Sie jetzt als Vollzeitpflegefall bewohnen.
Die Kontrollorgane – lange haben sie sich still verhalten – beklagen, dass man Ihnen und 95.000 Bewohnern von Pensionisten- Wohnhäusern und Pflegeheimen mehr Rechte als den anderen Bürgern nahm. Denn laut Ausgangsregelung der Regierung – verfassungswidrig, wie sich später zeigt – durfte jeder Mann und jede Frau ins Freie. Auch außerhalb der Hausanlagen wäre spazieren gehen für Sie erlaubt gewesen, ja sogar die Tochter treffen. Nur bei den vielen Pressekonferenzen fiel diese Info unter den Tisch. Das gab dem Direktor Ihres Hauses die Möglichkeit, Sie und Ihre Mitbewohner von seinen Hausregeln zu überzeugen. Schließlich haftet er persönlich für Ihre und der anderen Sicherheit. Luft schnappen durften Sie ohnehin im Garten. Und wo ein solcher fehlte, machte man das Fenster auf.
Eine Studie des Gesundheitsministeriums will beweisen, wie gut es Ihnen ohnehin erging. Die Stimmung in den Häusern sei familiär entspannt und ruhig gewesen, steht darin geschrieben. Man habe sich den Bewohnern noch mehr gewidmet als zuvor, sagten Pflegeleiter und Direktoren. Auf erhöhte Einsamkeit habe man keine Hinweise entdeckt. Ihre Mitbewohner oder gar Sie selbst hat man dafür nicht befragt. Vermutlich haben Sie ohnehin vergessen, dass man Sie entgegen den Menschenrechten hinter verschlossenen Türen hielt. Der Bundeskanzler wünschte Ihnen unlängst in einer Rede, in Zukunft mehr Kontakt zu haben – schlimmstenfalls warten Sie doch bis zum nächsten Sommer ab. Der Gesundheitsminister schmiedet Pläne, doch entscheiden kann er für Sie nichts, denn die Macht besitzt nur sein Pendant vom Bundesland. Die Umsetzung dessen Maßnahmen – sie sind flexibel – liegt ohnehin in des Direktors Hand.
Fällt es Ihnen schwer, sich das alles vorzustellen? Schließlich sind Sie zu jung, um in ein Alters- oder Pflegeheim zu ziehen. Ohnehin haben Sie das auch gar nicht vor? Sie hoffen wohl auf Selbstbestimmung bis ans Lebensende, das – wenn Sie jetzt um die 40 Jahre alt sind – statistisch gesehen in 40 Jahren fällig werden könnte. Dann liegt Ihr Risiko, an Demenz erkrankt zu sein, bereits bei über 15 Prozent. Werden Sie älter als 90 Jahre, liegt die Chance bei über 40 Prozent. Häufiger ist im hohen Alter zum Beispiel die Depression verbreitet.
Wie wird Ihr Pensionisten-Wohnhaus oder Pflegeheim in der Zukunft aussehen? Darf das Haustier mit zu Ihnen ziehen, oder gibt es nur Platz für noch mehr alte Menschen? Werden Sie Aufgaben übernehmen können, oder werden Sie stattdessen ruhiggestellt? Mögen alte Freunde Sie dort besuchen, oder liegt es möglichst weit entfernt? Werden die Pflegekräfte gut bezahlt, oder hat man sie durch Roboter ersetzt? Werden Sie noch Teil dieser Gesellschaft sein, oder sperrt man Sie einfach weg? Wer wird im Notfall über Sie entscheiden? Stellen Sie sich vor, es werden nicht jene die Sie lieben, sondern Politiker und Direktoren sein. ZZ
Dieser Text erschien auch in der Wochenzeitung DIE FURCHE 36/2020.
Über die Autorin
Nina Strasser ist freischaffende Autorin und Fotografin. Die Salzburgerin unterrichtet Journalismus an der FH Wien und schreibt unter anderem für die Straßenzeitung Augustin. Für ihre Texte zum Thema Pflege erhielt sie den Karl Renner Publizistikpreis, den Silver Living Award und den Preis der Ärztekammer Wien. Am 12.11.2020 bekam sie den Prälat Ungar Preis der Caritas für einen Artikel über die Isolation von Bewohner_Innen in Alten- und Pflegeeinrichtungen während der Corona-Pandemie.
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