Foto oben: Ferencz Kutasy schlief auf der Parkbank am Treppelweg, als ihn jemand in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli mit einem Messer so schwer verletzte, dass er noch in derselben Nacht starb.
Foto unten: Der 56-jährige Ungar lebte rund 20 Jahre in Wien auf der Straße. Er war psychisch krank und konnte nicht mit mehreren Personen in einem Raum schlafen. Weil er nie gemeldet war, fiel er durchs Sozialsystem.


Der Mord an Ferencz Kutasy

Ein Serientäter sticht in Wien nächtens auf schlafende, obdachlose Personen ein. Zwei Männer sterben, eine Frau überlebt. Der Mörder suchte anonyme Opfer und das sind sie nach ihrem Tod geblieben. Nun bekommt eines ein Gesicht.

 Text: Nina Strasser
Fotos: Heinz Stephan Tesarek

Ein schlichter Holzsarg ist in Raum F der Halle 3 am Wiener Zentralfriedhof aufgebahrt. Nelken sind darauf drapiert und ein kleiner Blumenstock. In den Kerzenhaltern flimmern Glühbirnen, eine Frau zupft sacht auf der Gitarre. Der Morgenhimmel des 25. September ist wolkenverhangen. Trauergäste treffen vor der Halle ein. Am Ende werden es rund 40 Menschen sein. Man umarmt sich, stellt sich vor. Fast jeder hier gehört zu einer Hilfsorganisation. Punkt 8.20 Uhr beginnt Orgelmusik vom Band zu spielen. Caritas-Seelsorger Tomas Kaupeny geht voran und die Trauergäste betreten den kleinen Raum. Es wird gebetet und gesungen. Bald geht der Geistliche auf den Grund dieser Zusammenkunft ein und sagt: „Ein von unvorstellbarem Hass erfüllter Mensch, ein völlig verirrt, verwirrt, verstörtes Herz hat ihn erstochen.“

Ferencz Kutasy ist das wahrscheinlich erste Opfer eines Serientäters und Doppelmörders geworden. Ein paar Gäste kramen nach Taschentüchern. Tomas Kaupeny erzählt von dem Verstorbenen und bedankt sich bei ihm im Namen der Anwesenden „für all das gute und geheimnisvolle, mit dem du unser Leben bereichert hast“. Nach exakt zwanzig Minuten beendet Glockenläuten die Zeremonie. Während die Trauergemeinschaft hinter dem Wagen mit dem Sarg bis zur Grube schreitet, ertönen aus tragbaren Boxen die Stimmen von Nick Cave und Patti Smith. „Pfiat di Gott Ferencz und auf Wiedersehen“, sagt der Seelsorger noch. Dann kurbelt der Bestatter den Sarg nach unten.

Die Opfer ohne Namen

Diesen Sommer hat jemand auf drei schlafende Menschen in Wien eingestochen. Zwei Männer starben. Die Frau überlebte schwer verletzt. Der Täter oder die Täterin wurde nicht gefasst. Die Art des Vorgehens und die Statistik sprächen laut dem ehemaligen Gerichtsmediziner Johann Missliwetz dafür, dass es ein Mann gewesen ist. Die Gewaltverbrechen passierten zudem ohne vorherigen Konflikt oder persönliche Beziehung zum jeweiligen Opfer. Weil es drei voneinander unabhängige Fälle sind, spricht man von einer Serie. Eine solche kommt ausgesprochen selten vor. Hätte niemand überlebt, würde diese kriminelle Person die Definition eines Serienmörders erfüllen. Womöglich ging es um die einfache Gelegenheit.

Der Täter hat die Opfer jedenfalls nicht aufgeweckt, um sie nach ihrer Nationalität oder ihrem Einkommen zu fragen. Dennoch konzentrierte sich bald ein Großteil der Berichterstattung auf die Obdachlosigkeit. Mit dem Argument des Datenschutzes nannte die Polizei von den Opfern keine Namen. Angehörige schien es nicht zu geben. Nur Alter und zwei Nationalitäten wurden bekannt und eben, dass sie auf der Straße lebten. Als hätten sie keine Identität gehabt – nicht nur aus Sicht des Täters, sondern auch für die breite Masse. Ferencz Kutasy hat man zwei Tage nach seinem Tod anhand seiner Tattoos, etwa an einer Sonne auf der Hand, identifiziert. Seine Halbschwester in Ungarn bekam Bescheid, doch soll sie bereits vor rund 20 Jahren den Kontakt zu ihm verloren haben. Zum Begräbnis in Wien reiste sie nicht an. Wie und warum der Mann einst die rund 350 Kilometer von seiner Heimatstadt Pécs nach Wien zurückgelegt hat, bleibt somit Rätsel. Doch alles, was danach passierte, hat Spuren hinterlassen und es gibt Menschen, die ihn vermissen.


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Der Ort, an dem er sich Nacht für Nacht zu Ruhe legte, erzählt noch heute von Ferencz Kutasys Leben. Dort, am Treppelweg im 20. Bezirk, erleuchten Straßenlaternen fast jeden Meter. Weil eine ausgefallen ist, klafft eine dunkle Lücke, wo seine auserwählte Parkbank steht. Eine Lärmschutzwand schirmt die Verkehrsgeräusche ab. Büsche geben den Blick zur Donau frei. An diesem abgelegenen Ort wird die Stille nur durchbrochen, wenn Bugwellen von Schiffen an das Ufer plätschern. Stufen führen vor der Bank hinab zum Wasser. Der 56-Jährige, sagen Menschen, die ihn kannten, sei stets gepflegt gewesen. Zum Wohnpark Handelskai sind es über 800 Meter. In die andere Richtung führt die gerade Strecke unter der A22 hindurch, bis sie am Brigittenauer Sporn in einer Sackgasse endet. Nach Mitternacht sausen selten Rad- oder E-Scooterfahrer vorbei. Bei Sonnenaufgang, bevor die ersten Jogger kommen, hatte Ferencz Kutasy seinen Schlafplatz schon verlassen. Zum Schlafen legte er sich nach 22 Uhr. Dass hier ein Mensch ein Zuhause hatte, kann kaum aufgefallen sein. In der Nacht vom 11. auf den 12. Juli dieses Jahres, am Höhepunkt der Hitzewelle, bettete er – wie stets – seinen Kopf auf ein Kleidungsstück. Mehr besaß er nicht. Irgendwann nach Mitternacht, als er bereits schlief, stach und schnitt ihm jemand in Arme und Oberkörper. Blut tropfte von der Parkbank und sammelte sich darunter. Der schwerverletzte Mann stand auf und schleppte sich 350 Meter weiter, wie Spuren später zeigten. Das Schiff Ulrike, das am Ufer ankerte, passierte er, bevor er sich auf einer Parkbank nahe dem Wohnpark wieder niederlegte.

Nichts erinnert daran, dass hier Ferencz Kutasy an einem Sommermorgen starb. Todesursache war vermutlich ein Schock aufgrund des Blutverlusts.


In den Morgenstunden gehen Menschen mit Hunden Gassi oder strampeln mit dem Rad zur Arbeit. Doch bis 7.40 Uhr Mittwochmorgen dauerte es, bis jemand die Polizei verständigte. Mit einem weißen Zelt schirmte man den Leichnam ab. Dank Spürhunden fand man den Tatort und sogar die Wasserpolizei rückte an. Noch war es ein Einzelfall.

Ein Serientäter in der Stadt

Zehn Tage später, am 22. Juli gegen 3.40 Uhr, erwachte auf einer Wiese in der Venediger Au eine 51-jährige, obdachlose Frau. Sie blutete, hatte Schmerzen und wankte in Richtung Bahnhof, wo jemand rasch die Rettung rief. Ein Lokal hat um diese Uhrzeit noch offen und die U1 und die U2 fahren in der Nacht von Freitag auf Samstag im 15-Minuten-Takt. Am Praterstern sind noch Menschen unterwegs. Die Tat scheint niemand bemerkt zu haben.

Am 22. Juli gegen 3.40 Uhr morgens erwachte auf der Wiese der Venediger Au eine Frau unter Schmerzen. Die 51-Jährige hat die Messerstiche in Oberkörper und Becken überlebt.


Die Slowakin überlebte mehrere Messerstiche in Brust und Becken, doch konnte sie sich an nichts Wesentliches mehr erinnern. Ob eines Zusammenhangs mit dem Fall am Treppelweg hielten sich Staatsanwaltschaft und Exekutive zurück.Doch am 9. August, es war ein Mittwoch, saß gegen 2 Uhr morgens ein 55-jähriger, obdachloser Mann am Hernalser Gürtel an der Straße. Sein Oberkörper war zerstochen und zerschnitten. Weil ein vorbeifahrendes Auto das Tempo drosselte, soll die dahinter fahrende Polizei auf den Verletzten aufmerksam geworden sein. Rettungskräfte waren schnell vor Ort.

Trotzdem starb der Mann im Krankenhaus vier Tage später, ohne dass man ihn befragen konnte. Der erste Tatort liegt weit abseits, am zweiten gibt es viele dunkle Stellen. Doch am Hernalser Gürtel ist fast jeder Meter ausgeleuchtet. Grünstreifen und U-Bahnbogen, wo die dritte Tat passierte, sind von umliegenden Wohnhäusern aus einzusehen. Jemand fotografierte sogar den schwerverletzten Mann und schickte die Bilder an eine Wochenzeitung. Alle Überfälle passierten in der Nacht, die Waffe soll stets die gleiche oder eine sehr ähnliche gewesen sein. Die Opfer schliefen im Freien, sie hatten mit niemandem gestritten, gestohlen wurde nichts. Das führten die Ermittlungsbeamten zur Erkenntnis, ein Serientäter sei in der Stadt.

An beiden Seiten des U-Bahn-Bogens am Hernalser Gürtel hatten zum Tatzeitpunkt Nachtlokale geöffnet. Trotzdem scheint niemand den Mörder gesehen zu haben. 


Seelenheil und Zigaretten

Jeden Sonntag um 18 Uhr findet in der Kirche Namen Jesu am Schedifkaplatz die Messe der Caritas-Gemeinde statt. Ein paar Besucher rauchen vor dem Eingang Zigarette. Drinnen in der Kantine gibt es Früchtetee in Einwegbechern. Tomas Kaupeny, der Seelsorger der Gemeinde, schüttelt Hände, während sich die Holzbänke in der Kirche füllen. Zwanzig Jahre lang hat er auch Ferencz Kutasy hier begrüßt. Die elf Kilometer vom Treppelweg nach Meidling und zurück, erzählt der Geistliche, habe der obdachlose Mann oft im Stechschritt zurückgelegt. Zweieinhalb Stunden dauert das laut Google Maps. Trotzdem sei er immer 20 Minuten vor Gottesdienstbeginn erschienen. „Er ist erstaunlich gut organisiert gewesen“, erzählt Tomas Kaupeny, „er hat immer gewusst, wo er Essen oder etwas zu anziehen bekommt.“ Doch nach einer Sommerpause im Juli blieb der Ungar der Messe fern. Der Geistliche, der sich sorgte, erfragte irgendwann, dass der 56-Jährige durch fremde Hand ums Leben kam. Im Gottesdienst hat er die Gemeindemitglieder informiert. Für viele sei es ein Schock gewesen, dass sie eines der drei Opfer des Serientäters kannten. Um Ferencz Kutasy einen würdigen Abschied zu bereiten, griff Seelsorger Tomas Kaupeny zum Telefon. Denn dem mittellosen Mann wäre mangels Papieren nur ein zehnminütiger Abschied zugestanden. Kardinal Christoph Schönborn, Erzbischof von Wien, erwirkte höchstpersönlich die Möglichkeit der längeren Zeremonie bei dem Sozialbegräbnis der Stadt Wien.

Trillerpfeifen und 10.000 Euro

Die Sofortmaßnahmen von Polizei und Hilfsorganisationen erfolgten nach dem dritten Fall. Sie verteilten Handalarme und Trillerpfeifen an obdachlose Menschen in Wien. Zusätzlich zu den aktuell 6.800 Wohn- und Betreuungsplätzen wurden die nächtlichen Schutzräume auf 198 Plätze erweitert. Sie würden gut angenommen, vermeldet die Wohnungslosenhilfe des Fonds Soziales Wien. Rund 12.370 wohnungs- oder obdachlose Personen wurden dort 2022 erfasst. Mancher zog inzwischen weiter und manch einer wurde nicht gezählt.

Ein Säckchen mit Handalarmen und Trillerpfeifen, die Polizei und NGOs austeilen. Damit sollen Opfer auf sich aufmerksam machen können.


Als Resultat aus den Morden begannen Politikerinnen und Politiker ihre Lebensumstände in Presseaussendungen zu thematisieren. An Orten, wo viele Menschen im Freien schlafen, fahren Polizisten seitdem öfter Streife und führen in Obdachlosenheimen Aufklärungsgespräche. Der Verein der Freunde der Wiener Polizei lobte für zielführende Informationen 10.000 Euro Belohnung aus. Mit dem Fall betraut wurde die Gruppe Bauer des Landeskriminalamtes Wien, Ermittlungsbereich Leib/Leben. Die Zahl der ermittelnden Beamtinnen und Beamten variiere, schreibt die Pressestelle, je nachdem, welche Schritte vorgenommen würden. Auch andere Abteilungen wären in die Ermittlungen involviert. Ähnlich gelagerte Fälle habe es in naher Vergangenheit nicht gegeben.


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Ein Jugendlicher, der im September 2022 einen obdachlosen Mann ins Bein gestochen hat, scheint bis heute nicht gefasst. Weil der Täter sein Opfer vor der Tat weckte, wird ein Zusammenhang aber ausgeschlossen. Ende August tauchten menschliche Knochen und ein Schlafsack am Wienerberg auf. Fremdverschulden sei auszuschließen, hieß es nach der Obduktion. Die Polizei hält sich weiterhin bedeckt. Hinweisen werde nachgegangen. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, heißt es seit Wochen. In der Öffentlichkeit droht der Fall in Vergessenheit zu geraten. „Manches will man gar nicht wissen“, sagt ein Mann, der neben der Parkbank auf der Ferencz Kutasy starb, regelmäßig Sport betreibt. Am Praterstern, dem Tatort Nummer zwei, tobt nun das Oktoberfest. Betrunkene in Lederhosen erleichtern sich ganz in der Nähe, wo die Frau niedergestochen wurde. Ein Barmann von einem Nachtlokal am Hernalser Gürtel, beteuert, obwohl die Polizei nach Videoaufnahmen fragte, er habe von dem Mord im U-Bahnbogen gegenüber bisher nichts mitbekommen. Und die obdachlosen Menschen? Viele schlafen weiter auf der Straße.

Um 21 Uhr macht der Canisibus am Praterstern Station. Frauen verteilen eine warme Suppe und ein paar Lebensmittel. Daneben rauscht der Verkehr vorbei. Streetworkerinnen und Streetworker informierten mit mehrsprachigen Flugzetteln über die Sicherheitsmaßnahmen. Drei Männer aus Ungarn, die auf der Mauer sitzend essen, haben sich über die Taten längst aus der Gratiszeitung informiert. Ein paar Monate, sagen sie, würden sie bereits in Österreich verbringen. In ihrer Heimat ist seit 2018 Obdachlosigkeit verboten.

Einer der drei obdachlosen Männer aus Ungarn posiert in einer Unterführung bei der Donauinsel. Er wird gerne fotografiert und versucht stets, andere zum Lachen zu bringen.


Ungarns Polizei ist befugt, sie zu verhaften und den wenigen Besitz zu vernichten. In Wien sei das ganz anders: „Die Polizei schaut oft nach dem Rechten“, sagt einer, „sie ist freundlich und stört uns nicht beim Schlafen.“ Sein Ellenbogen, sagt ein anderer und macht eine Stoßbewegung, sei gegen Mörder trotzdem die effektivste Waffe. Das größere Problem sei allerdings, ohne Meldezettel Arbeit zu finden. Mit der U-Bahn fahren die drei zur Donauinsel. Im Erholungsgebiet der Wiener nächtigen sie wie andere obdachlose Menschen. Ein 72-jähriger Tiroler sagt, dass er hier die Ruhe schätze. Das Angebot an Indoor-Betten wolle er genauso wie die drei Ungarn nicht nützen – zumindest so lange das Wetter hält.

Der 72-jährige Tiroler ist erst seit wenigen Monaten erneut obdachlos und schläft im Schlafsack auf einer Parkbank. Notunterkünfte meide er, erzählt der Mann, weil dort zu viel gestohlen werde.


Dort, da sind sich die Ungarn und der Österreicher beim Zigarettenrauchen einig, werde viel zu viel gestohlen. Anderswo auf der Insel haben Menschen ihr Lager in einem Wäldchen eingerichtet. Manch einer kampiert im Zelt unter einer Brücke. Auch das U-Bahn-Sicherheitspersonal berichtet, dass sich die Zahl jener, die nachts in den Stationen liegen, nach den Morden nicht wesentlich verkleinert hätte. Man kann die Menschen nicht zwingen, die Notunterkünfte zu nützen. Ferencz Kutasy war wie mindestens zwei Drittel aller obdachlosen Menschen psychisch erkrankt ohne Behandlung oder Diagnose. Mit mehreren Personen in einem Zimmer oder Schlafsaal zu liegen, war für ihn unmöglich. Weder war er in Wien gemeldet, noch hatte er Ansprüche auf Sozialleistungen. Ein Raum nur für ihn allein – den gab es schlichtweg nicht.

Rund 12.370 wohnungs- oder obdachlose Personen wurden 2022 in Wien erfasst. Auf der Donauinsel nächtigen auch Durchreisende, die mitunter nicht in den Zahlen aufscheinen.


Ein besonderer Mensch

Das Caritas-Gemeinde-Quartier im 7. Bezirk betritt man durch eine schwere Holztüre. Das kirchliche Gemäuer muss immer wieder ausgebessert werden. Im begrünten Innenhof sitzen Männer mit bewegten Lebensgeschichten. Sie plaudern über dies und das und essen dazu Schinkenbrote. Im vergangenen Jahr war Ferencz Kutasy hier fast täglich. „Hannelore, Kaffee!“, rief er zur Begrüßung. Hanni Weiniger, die sich „Mädchen für alles“ nennt, hat ihm diesen Wunsch erfüllt. Oft bekam er eine Schokolade. „Er war der einzige Mensch, den ich kenne“, erzählt sie, „der immer Bitte und Danke gesagt hat.“ Ein besonderer Mann mit leuchtenden Augen sei er gewesen, auch wenn er hie und da die Nerven strapaziert hätte. Mal drehte er, niemand wusste warum, im ganzen Haus die Lichter ab. Am liebsten saß er am großen Tisch im Aufenthaltsraum und kommentierte Fernsehsendungen mit. Die Zusammenhänge, die er in vielen Dingen sah, blieben anderen verschlossen. Dann versuchte er sie lautstark zu erklären.

Im Aufenthaltsraum des Caritasgemeinde-Quartiers trank Ferencz Kutasy im vergangenen Jahr regelmäßig schwarzen Kaffee und kommentierte Fernsehsendungen mit.


Deshalb musste er, den anderen zuliebe, auch einmal das Haus verlassen. Alle, die ihn kannten, sagen, er sei ein friedliebender Mensch gewesen. Christian Wetschka organisiert für obdachlose Menschen Notschlafplätze, hilft bei der Schuldenregulierung oder bei Amtswegen. Er leitet auch die Theatergruppe. Der Sozialarbeiter sagt über das Gemeinde-Quartier: „Ich will hier eine Atmosphäre schaffen, in der sich alle geborgen fühlen.“ Es habe viel Geduld benötigt, Ferencz Kutasy an die Annehmlichkeiten zu gewöhnen. Christian Wetschka präsentiert das Kleiderlager. Hier riecht es nach frisch gewaschener Wäsche, Hosen, Hemden, Jacken, alles ist ordentlich sortiert.

Hanni Weininger und Christian Wetschka präsentieren die Kleiderkammer. Der 56-jährige Ungar, erzählen sie, habe sich Hosen oder Kappen meistens mit einer Schere zurechtgeschnitten.


Der Ungar habe hier oft gustiert. Military-Muster, Jacken mit vielen Taschen und Kappen mochte er, und was ihm nicht ganz gefiel, schnitt er mit einer Schere zu. Auf der Wand neben der Stiege in den ersten Stock hängen rund 300 Fotos von Verstorbenen in bunt bemalten Rahmen. Viele würden noch fehlen, sagt der Sozialarbeiter, man komme leider nicht mehr nach. Ein Foto von Ferencz Kutasy mit schwarzer Schleife steht in einem der hohen Fenster. Davor brennt eine Kerze. ZZ

Der Mord an Ferencz Kutasy und die anderen Gewalttaten dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

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Aktualisierung: Polizei veröffentlicht Fahndungsvideo

Am 18.10.2023 veröffentlichte die Landespolizeidirektion Wien ein Video, welches einen Verdächtigen oder möglichen Zeugen zeigt.

Aus der Aussendung der LPD Wien: Im Zuge der Sichtung von Videomaterial konnte im Bereich Hernalser Gürtel am 09.08.2023 in der Zeit zwischen 01.19 Uhr und 01.40 Uhr eine männliche Person wahrgenommen werden. Aufgrund der räumlichen und zeitlichen Nähe zu dem dritten Tatort ist diese Person von besonderem polizeilichem Interesse und wird ersucht, sich bei der Polizei zu melden. Die Wahrnehmungen dieses Mannes sind für die Ermittler von großer Wichtigkeit.

Für Hinweise zur Ergreifung des Täters oder der Täter wenden Sie sich an das Landeskriminalamt: 01-31310-33800


Über die Autoren

Nina Strasser (Text) ist Journalistin und Fotografin in Wien und hat unter anderem den Concordia Preis für Menschenrechte gewonnen.
www.ninastreets.com

Heinz Stephan Tesarek (Fotos) ist freier Fotojournalist und Herausgeber von ZWISCHENZEIT ONLINE.
www.heinztesarek.com


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